Die Zeit macht die Türe zu und geht. [...]
Wir aber, wir aber,
wir hinterlassen gerne jede Art Spuren und wollen sie auch zeigen.
Sie sollen bleiben, unsere Spuren.“
Aus: Elfriede Jelinek, Winterreise. Ein Theaterstück. 2011.


Spurlose Wege
Eröffnungsrede von Vitus Weh zur Ausstellung „Vorgänge“ von Sibylle Ettengruber, Service Center der Kreuzschwestern Linz, 4. Oktober 2012

Das Logo der Linzer Kreuzschwestern ist ein Vexierbild: man kann seine feinen Linien sowohl als den Rahmen eines Fenster lesen, das den Blick nach außen freigibt, als auch als den Grundriss eines Gartens mit sich kreuzenden Wegen.

Da scheint es mir gut zu passen, dass sich Sibylle Ettengruber, deren Ausstellung mit dem Titel „Vorgänge“ heute hier eröffnet wird, in ihren künstlerischen Arbeiten mit genau diesen beiden Themen auseinandersetzt: Einerseits sind da ihre künstlerischen Medien – Video und Fotografie –, die sie wie Sichtfenster auf die von ihr inszenierten Szenen einsetzt, andererseits ist da ihr zentrales künstlerisches Thema: der Weg.
Die zentrale Aktion in ihren Videos und Fotoarbeiten ist tatsächlich immer das Gehen von bestimmten Wegen. Kurz gesagt, kann man der Künstlerin, die gleichzeitig immer auch ihre eigene Darstellerin ist, in ihren Werken beim Gehen zuschauen. Aber es ist ein eigentümliches Gehen: Sie hält sich nicht an Straßen, Türen und Brücken, sondern geht wie schlafwandelnd mitten durch die Welt, mitten durch Landschaften, mitten durch Städte. Wie beispielsweise ihr Video „Durchteichen“ zeigen, lässt sie sich dabei auch nicht von einem Teich aufhalten: Sie durchschreitet das Wasser einfach; geht einfach hindurch, als wäre es gar nicht vorhanden.
Auch in ihrem Video Lily Pond Walk durchquert die Künstlerin einen kleinen See. Wie bereits der englische Titel benennt, ist es eine Wanderung durch einen Seerosenteich. Das Video zeigt die Durchquerung dabei so stark verlangsamt, dass die Bewegung fast nicht mehr sichtbar ist und der dreistündige Film dadurch zum statischen Bild gerinnt. Entstanden ist das Video hier im Areal der Kreuzschwestern.
Ebenso vor Ort entstand das Video Round about, das einen kreisförmigen Spaziergang der Künstlerin über das Gelände der Kreuzschwestern zeigt. Da die kreisförmige Linie dabei strikt geometrisch verfolgt wird, durchquert sie auf ihrem Weg unter anderem Teile der Schule, das Schwimmbad und auch die Kirche. 
Eine solche Bewegung auf der Direttissima wurde in den letzten Jahren vor allem durch die Sportart Parkour bekannt. Während das Wort Parcours (mit C) beim Springreiten die verschlungene Abfolge an Sprüngen bezeichnet, die es zu absolvieren gilt, steht der Begriff in der Schreibweise Parkour (mit K) für eine Sportart, bei der der Traceur ( französisch: „der den Weg ebnet“ der „der eine Spur legt“) unter Überwindung von städtischen Hindernissen wie Parkbänken, Mauern und Häuserschluchten möglichst direkt seinen Weg von Punkt A nach Punkt B sucht. Da es eine Sportart ist, kann man schon denken, dass das Ganze auch noch schnell gehen soll. In den Werken von Sibylle Ettengruber hingegen geht es um die Langsamkeit, und – vergegenwärtigen Sie sich nur die schwebende Stimmung in ihren Videos! – offensichtlich genau um das Gegenteil von Springen und Laufen.
Betrachtet man Ettengrubers Art der geometrisch-gehenden Einschreibung hingegen kunsthistorisch, so werden deutliche Parallelen zu jenen Wanderungen und Performances sichtbar, wie sie sich seit dem Ende der 1960er Jahre im Zuge der Land-Art-Bewegung entwickelten. Künstler wie Richard Long, Dennis Oppenheim, Jan Dibbets oder Hamish Fulton verließen damals ihre Ateliers und die normalen Ausstellungsräume der Kunst, um direkt in und mit der Landschaft zu arbeiten. Viele dieser Aktionen fanden damals in der Einsamkeit und monumentalen Kargheit eines Strandes, einer Wüste, einer Schneelandschaft oder dem steinernen Meer der Berge statt. In bewusst starkem Kontrast wurde damals der Wildheit der Landschaft die geometrische Strenge der Moderne gegenübergestellt. Die Prinzipien der Moderne wurde sozusagen in einem reflektiert-gebrochenen Heroismus vorgeführt.
Aber so deutlich wie Sybille Ettengruber in ihren Werken an diese buchstäblichen Pioniere anknüpft, so unübersehbar sind doch auch die Differenzen zu dieser kunstgeschichtlichen Epoche. Die Differenzen liegen nicht allein in der Auswahl der Topografie – Sibylle Ettengrubers Wanderungen finden ja nicht in heroischer Kargheit, sondern immer im alltäglichen Umfeld statt: im Park, in der Stadt, in der Kulturlandschaft – nein, die deutliche Differenz liegt vor allem in der personalen Präsenz. Während die historische Land Art eine gleichsam personenlose Kunst war – d.h. das resultierende Werk (das Foto, Video oder die Landkarte) ist idealerweise menschenleer –, definiert sich bei Sibylle Ettengruber fast alles über ihre personale Anwesenheit: Ihr Gestus, ihr Blick, ihre Art zu gehen.
Auffallend in ihren Videos und Bildern ist beispielsweise auch ihre Kleidung. In ihren einfachen schwarzen Kleidern wirkt die Protagonistin eigenartig engelhaft. Wie ein Engel, den nichts Materielles aufzuhalten vermag, der alles zu durchdringen vermag  Die ungewöhnliche Stille und Langsamkeit der Filme unterstützt diesen Eindruck noch. In einem gewissen Maße ist das sogar unheimlich.
Ich denke, das was uns prinzipiell an Bilder von Wegen und an Bildern vom Gehen so fasziniert und berührt, ist unser – zumeist unbewusstes – Wissen darum, dass jede Art zu Gehen immer auch eine bestimmte Art zu Denken ist.
Verstehen ist ja ohne Bewegung gar nicht möglich. Das Wissen darum steckt bereits im Wort „Ver-stehen“. Das Präfix „ver-„ kommt aus dem Indogermanischen und bedeutet „vorwärts“ aber auch „hinüberführen, hinüberbringen“. Um also etwas zu ver-stehen, muss man sich buchstäblich bewegen, einen anderen Standort oder Standpunkt einnehmen, einen Weg hinüber finden.
Ähnlich grundlegend beschrieb bereits der deutsche Philosoph Martin Heidegger den Weg. In seinen Schriften spürte er wiederholt bestimmten ländlichen Weg-Erfahrung hinterher: Vom Feldweg über das Land bis zum Holzweg durch den Wald. Beides waren ihm Metaphern für die Weltwahrnehmung per se, buchstäbliche Wege des Verstehens.
Ein Feldweg beispielsweise führt sowohl die Schritte des Landmanns als auch des Denkenden auf „wendigem Pfad“ durchs Gelände
während Holzwege jeweils harte Schneisen in den dichten Wald schlagen, meistens ohne Verbindung zueinander, aber doch mitunter zu einer Lichtung des Seins, zu einer Lichtung des Verstehens führen.
Sein 1950 erschienenes Büchlein Holzwege ziert ein Frontispiz, das diese Art zu denken schön illustriert.
Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege,
die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören.
Sie heißen Holzwege.
Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald. Oft scheint es,
als gleiche einer dem anderen. Doch es scheint nur so.
Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen,
was es heißt, auf einem Holzweg zu sein.

Auf einem Holzweg zu sein bedeutet demnach also keineswegs, auf einem falschen Weg zu sein. Vielmehr ist es eine spezielle Erschließungsmethode von Welt an sich. Heidegger würde wohl sogar behaupten, es sei die einem unbekannten Terrain einzig adäquate Methode. Laut Heidegger sind wir in die Existenz geworfen wie in einen dichten Wald. Schneisen zu schlagen ist unsere einzige Möglichkeit, ans Licht zu kommen.
Als Metapher betont der Begriff zudem die Erfahrung geschichtlicher Kontingenz und steht damit im strikten Gegensatz zur Metapher der organischer Entwicklung, dem Entwicklungsideal einer vergangenen Epoche.
Ein echter Holzweg ist buchstäblich vorläufig und wuchert mit der Zeit wieder zu, die durch ihn eröffneten Lichtungen der Wahrnehmung und des Denkens schließen sich wieder.
Ähnliches scheint mir auch bei jenen Wegen der Fall zu sein, die uns Sibylle Ettengruber aufzeigt. Nach ihren Durchquerungen ist das Wasser wieder so glatt wie zuvor. Es bleibt keine Spur zurück. Angesichts der ideologischen Bedeutung, die der gesellschaftliche Imperativ „Spuren im Leben zu hinterlassen“ in unserer Zeit erfahren hat, halte ich das für sehr eindrücklich.
Dazu noch einmal ein literarisches Zitat. Diesmal von Elfriede Jelinek. Es stammt aus ihrem furiosen neuen Theaterstück Winterreise

„Die Zeit macht die Türe zu und geht. [...]

Wir aber, wir aber,
wir hinterlassen gerne jede Art Spuren und wollen sie auch zeigen.
Sie sollen bleiben, unsere Spuren.“





In
Sibylle Ettengrubers „Der Raum hinter der Karte - Gehen nach Plan“ geht es darum,
Grundrisse, Grenzen und Abgrenzungen, Bahnen, Wege, Straßen, Mauern, Zäune,
Markierungen und eine Menge öffentlicher und privater Ordnungen und Bedeutungen zu

durchqueren, zu überschreiten und zu „übergehen“ - im zweifachen Sinne von sowohl
ignorieren als auch einfach physisch darüber zu laufen. Und es geht auch darum, zu
durchkreuzen - auch hier in einem doppelten Sinn, weil einmal der vorgegebene Sinn
durchkreuzt wird, indem zum Beispiel die Funktion einer Mauer nicht akzeptiert wird, und
andererseits, weil das geradlinige Verfahren der Künstlerin vom eingewohnten Muster der
gegebenen Situationen als ein kreuz und quer laufen erscheinen muß. Diese Art der Freiheit
deckt einen anderen Lebensraum auf, der wesentlich größer und älter ist als die kleinteiligen
kulturellen Muster.

Franz Xaver Baier, im Rahmen der Ausstellung besetzt/ frei oder der freie Umgang mit dem besetzten Raum
Gemeinschaftsausstellung
afo architekturforum oberösterreich

Künstlervereinigung MAERZ
Kuratoren: Gerhard Brandl, Gerhard Neulinger, Christoph Weidinger

Pressetext besetzt_frei


A walk according to its own rules. Sybille Ettengruber
Walk on by – unfolding a map °2
The first impression we get when watching the video is that we look at someone who decided to make a regular recording of their walkabout. Bu we promptly realise that something is not quite right with this quasi-documentary. The film presents Białystok on one of the very first, cold days of Spring - people are still wearing warm jackets. One girl is walking straight ahead wearing only a black dress which doesn’t even cover her arms. The passersby seem to be perplexed more by her behaviour though. She doesn’t appear to stick to any set routes, pavements or paths. She is boldly striding through the city lawns and crossing the streets in random places not paying attention to traffic lights and cars. She is entering random flats through the windows and leaving through the windows on the opposite side. She is even crossing the river. She seems to be setting her directions herself in an attempt to show that our usual routes are purely the matter of convention and this way refuses to obey the conventional restraints.
The direct lines of Sybille's path formed an equilateral triangle. Two sides were a transposition of the Białystok central market's shape. The whole trip took place near the Arsenal Gallery. The video was a documentation of this trip carried out in accordance with the rules set by the artist herself. She skilfully edited the recorded material so that the viewer could have watched her way through the people's flats. Without unnecessary shots one scene dissolves into the next, where she walks through a park or crosses the river. In practise not everything went so smoothly but the audience was spared the scenes in which the artist would seek permissions for entering someone's house or wait for the cars to go. The trip ended right back where it started. Moving in defiance of the set rules and restraints became an autonomous activity – the artist herself was responsible for laying out her paths on the basis of her imaginary plan.
Marta Ryczkowska

http://performancearsenal.blogspot.com/



Sibylle Ettengruber – Eine Revolution des musealen Betrachterblicks
„Ein Voyeur schaut um zu sehen, nicht um sich etwas auszudenken.“
Sibylle Ettengruber

Für den letzten One-Night-Stand am 21. September 2009 plant Sibylle Ettengruber
eine Performance, die sie in den verschiedenen Gebäuden am Platz vor dem
Landesmuseum aufführen wird. Die Künstlerin wird hinter Fenstern von

Privathäusern sporadisch sichtbar werden, wo anders wieder auftauchen und im
Dunkel der hereinbrechenden Nacht entschwinden. Im Ausstellungsraum der
Landesgalerie sind ein Fernrohr und mehrere Feldstecher in Blickrichtung auf die
benachbarten Gebäude positioniert.
Die Ausstellungsbesucher können sich der Darbietung in privaten Räumlichkeiten
durch einen Blick durch ein Fernrohr oder durch Feldstecher visuell nähern, - einer
Performance, die ihnen – da im privaten Milieu, sonst nicht zugänglich wäre.
Es ist vielleicht ein bißchen so, als befände sich das One-Night-Stand-Publikum in
einer Aussichtskabine. Etwas, was normalerweise nicht zulässig ist, nämlich in
fremde Häuser zu schauen, wird hier Teil eines Kunstprojektes. Die Künstlerin
kultiviert den verbotenen Blick, einen Blick in die Intimität der gesetzlich geschützten
Privatsphäre. Ein Ziel des künstlerischen Konzeptes ist daher die empirische und
visuelle Aneignung von privaten Räumen, wenn auch nur für einen kurzen
Augenblick.
Bietet der Blick aus dem Museumsfenster eine Sicht auf eine Wirklichkeit fern jener
museumsüblichen Repräsentationen wie sie anhand der ausgestellten Exponate
stattfindet?
von Brigitte Reutner

Text_one_night_stand


Sibylle Ettengruber(1976) became a darling of the Bialystok public, who turned up in unexpectedly large numbers. Her video called Walk on by Bialystok, unfolding the map “2 documented her walk through the city. She started in the street, and following a straight line pathway based on a triangle drawn over a map. The triangle, I am told, referred to some episode in the Bialystok history, that of an old market. She walked through people’s homes, crawled through their windows, climbed over hedges, jumped into river, marched through undergrowth in the park, walked across a dual carriageway, returning to the starting post, in front of Herkulesy ( a pub?).
The camera moved with her, behind her, in front of her, looking at her sideways. Ettengruber kept the same speed, rhythm, appearance a even the weather(!) – her interaction focused on following the route, even when one of her sling back shoes became faulty. I spontaneously recalled Cleo from 5 to 7 – an early cinema verite for the similarity of the pace and feeling of detachment. Since perceptions are predictive hypotheses based on knowledge stored from the past, Ettengruber’s main task was to disassociate her ‘present movement and position’ from the predictions. She accomplished that by strengthening the ‘unexpected’, e.g. there would be a scaffolding or a chair under the window she crawled through to facilitate her escape.
For a greater part of the video she avoided identification with time and place, thus increasing the uncertainty of identification for those who do not live in the town.
Slavka Sverakova, June 6
th 2009


Der Standart: am 21. Juni 2010
Raumkunst und Projektion